Das Spannungsfeld von 'prodesse et delectare' in der lateinischen Literatur seit der
SpΣtantike und in der deutschen Literatur der frⁿhen Neuzeit.
1. Lateinisches Lehrgedicht und lateinische Epik seit der SpΣtantike (bei punktuellem
Einbeziehen mittel- und neulateinischer Literatur).
Beim lateinischen Lehrgedicht der SpΣtantike tritt die traditionelle Funktion 'Lehren'
hΣufig hinter anderen Funktionen, z.B. 'Unterhalten' (Beweis rein artistischer VirtuositΣt),
zurⁿck, oder es wird das eigentliche Thema von einem zweiten Thema ⁿberlagert, dessen
Vermittlung die eigentliche Absicht des Autors war (z.B. Notwendigkeit der Wiedergewinnung
einer heilen Welt, Angebote zur rationalen Neuordnung der staatlichen Gemeinschaft und
damit Anleitung zu einem 'wirklichkeitsadΣquateren' Modell sozialen Handelns). Ein zweiter
Aspekt ist die zunehmende Fiktivierung und Allegorisierung der Gattung in der Renaissance,
als Lehrgedichte erstmals mit dem tradierten Wahrheitsanspruch brechen und vorgeben, etwas
zu lehren, was 'in Wirklichkeit', d.h. in der subjektiven ▄berzeugung der Autoren, gar nicht
gelehrt werden kann (Augurelli), bzw. entscheidende Tatsachen ihres Lehrgegenstandes
weglassen und stattdessen dem Leser mythisierende, d.h. fiktive ErklΣrungen anbieten
(Fracastoro), oder das vordergrⁿndige Thema durch intentionale Allegorisierung auf ein
anderes, religi÷s-erbauliches Thema hin umdeuten (Lazarelli).
Epische Dichtung ist in der SpΣtantike primΣr an die neuen gesellschaftlichen Strukturen
des Imperiums gebunden und eigens fⁿr Rezitationen bei offiziellen AnlΣssen geschrieben.
Dadurch Σndert sich die Struktur der Gattung nicht nur inhaltlich und formal, sondern auch
narratologisch in entscheidender Weise (Spannung zwischen Σsthetischem und persuasivem
Anliegen). Die Bibelepik der SpΣtantike ist von einer neuen, heteronomen ─sthetik bestimmt.
Die traditionellen gattungskonstituierenden Mittel des tradierten Epos (z.B. Vergil) werden
einem Proze▀ der Entpragmatisierung unterworfen, um zu zeigen, da▀ das antike Epos mit seinen
paganen Inhalten ausgedient hat und durch die PrΣsentation der Bibel als Poesie
ⁿberwunden ist. Diese Repragmatisierung der alten Gattung Epos in der neuen Gattung
Bibelepos (Bibel als Epos) fⁿhrte dann konsequenterweise zu einer neuen, heteronomen ─sthetik
der Erbauung. Daneben ist fⁿr die spΣtantiken Bibelcentonen eine andere Form der
Entpragmatisierung des vergilischen Epos und seiner Repragmatisierung als Bibelepos (Vergil
als Bibel) zu konstatieren. Hier ergeben sich Verbindungen zum Projekt 'Dichtung als Organon
der Religion / Religion als Organon der Dichtung').
Als weitere Problemfelder bieten sich die Gattungen der Historiographie (einschlie▀lich
der mittelalterlichen und humanistischen) und des antiken Romans an sowie Textsorten der
Hypotheseis (Inhaltsangaben), Epitomai (Auszⁿge, Kurzfassungen) und Kommentare
(Hypomnemata), bei denen sich analoge Ent- und Repragmatisierungsprozesse einzelner Texte
und ganzer Textgruppen beobachten lassen, durch die expositorische und fiktionale Texte in
neue pragmatische ZusammenhΣnge eingebunden werden.
Wichtige Forschungsliteratur
B. Effe, Dichtung und Lehre, Mⁿnchen 1977.
B. Fabian, Das Lehrgedicht als Problem der Poetik, in: Hans R. Jau▀ (Hg.), Die nicht mehr
sch÷nen Kⁿnste. Mⁿnchen 1968 (Poetik und Hermeneutik III).
G. Roellenbleck, Das epische Lehrgedicht Italiens im 15. und 16. Jahrhundert. Mⁿnchen 1975.
R. Herzog, Die Bibelepik der lateinischen SpΣtantike. Bd. 1, Mⁿnchen 1975.
W. Kirsch, Die lateinische Versepik des 4. Jahrhunderts. Berlin 1989.
A.J. Woodman, Rhetoric in Classical Historiography. London/Sydney 1988.
T.P. Wisemann, Clio's Cosmetics. Leicester 1979.
H. White, Tropics of Discourse. Baltimore 1978 (dt. 1986).
B.E. Perry, The Ancient Romances. Berkeley/Los Angeles 1967.
R. Merkelbach, Roman und Mysterium in der Antike. Mⁿnchen/Berlin 1962.
G. Zuntz, The Political Plays of Euripides. Manchester 1955.
A.W.A.M. BudΘ, De hypotheseis der griekse tragedies en komedies. Den Haag 1977.
Eigene Vorarbeiten (Heinz Hofmann, Seminar fⁿr Klassische Philologie)
La 'Syphilis' di Girolamo Fracastoro: immaginazione ed erudizione, in: Res Publica Litterarum
Aspetti narrativi ed unitα epica della 'Sifilide' di Girolamo Fracastoro, in: l.c. 10, 1987.
Seminar: Das neulateinische Lehrgedicht. Leitung: H. Hofmann (ed.), in: Acta Conventus Neo-Latini
Guelpherbytani. Proceedings of the Sixth International Congress of Neo-Latin
Studies, edd. S.P. Revard, F. RΣdle, M.A. Di Cesare. Binghamton/N.Y. 1988.
Die Fiktivierung des Lehrgedichts. Zur literarischen Diagnose der Syphilis (Ms.).
▄berlegungen zu einer Theorie der nichtchristlichen Epik der SpΣtantike, in: Philologus 132,
Artikulationsformen historischen Wissens in der lateinischen Historiographie des hohen und
spΣten Mittelalters. Heidelberg 1987.
Antike Hypotheseis: Textsorte und Gattung (Ms.).
M÷gliche Dissertationsprojekte
Das VerhΣltnis von Didaxe, Persuasion und Σsthetischer Autonomie in antiker Lehrdichtung.
Funktionalisierung der Gattung als Reaktion auf individuelle und gesellschaftliche Sinndefizite.
Rezeptionsformen antiker Lehrdichtung im neulateinischen Lehrgedicht der Renaissance im
Hinblick auf die Dialektik von Pragmatik und Fiktion einerseits und auf das VerhΣltnis
zur humanistischen Gelehrtenliteratur andererseits.
Pragmatisierung lateinischer Epik im Kontext der Funktionalisierung von Dichtung fⁿr
Propaganda in der SpΣtantike (Claudian bis Coripp - und weiter).
Die heteronome ─sthetik der Erbauung als Resultat der Pragmatisierung von Dichtung als
Sacra Poesis in der Bibeldichtung.
Entpragmatisierung von Texten durch Epitomisierung und Kommentierung von der SpΣtantike
bis in die Renaissance.
Analoge Fragestellungen zur Historiographie (zwischen Pragmatik und Fiktion), zum Roman
(Σsthetischer Text vs. Mysterientext, Lektⁿreanweisungen durch Allegorisierung), zu den
Hypotheseis (vom expositorischen Text zur mythologischen ErzΣhlung und
Kurzgeschichte).
Das Projekt ist auf die frⁿhneuzeitliche deutsche Dichtung von ca. 1450 bis ca. 1650
konzentriert. Diese Literatur scheint auf den ersten Blick unter einem ⁿbermΣchtigen
Pragmatisierungsdruck zu stehen, der aus bestimmten historischen Rahmenbedingungen
resultiert: Es gibt keine Berufsdichter, viele Werke sind Auftragsarbeiten oder Kasualdichtung,
die traditionelle Dichtungsauffassung postuliert heteronome Zwecke, Reformation und Gegenreformation
finalisieren das geistig-literarische Leben in ihrem Sinne usw.
Bei genauerer Betrachtung der ArbeitsrealitΣten einzelner Autoren (z.B. des Versdichters
Hans Sachs oder des ProsaerzΣhlers J÷rg Wickram) zeigt sich aber ein gegensteuernder
Bedingungskomplex, der die Entpragmatisierung begⁿnstigt: Die Dichter haben ein
Autorenselbstkonzept, das die Dichtkunst oft bewu▀t vom Berufsalltag absetzt; viele Werke
entstehen im Kontext von 'Musenh÷fen', literarischen Vereinigungen (Meistersang) oder dem
durch den Buchdruck zu neuer Dimension gelangten unbestimmt-offenen Markt fⁿr Literaturliebhaber;
als ReprΣsentationskunst rΣumen gerade auch die Auftrags- und Kasualwerke
der Σsthetischen Autonomie ihr Recht ein; die Poetik postuliert heteronome Ziele (z.B. Moraldidaxe), lehrt aber faktisch Σsthetisch autonome Strukturen und konstituiert so poetische
Selbstbezⁿglichkeit; der literarische Renaissance-Humanismus setzt dem Horazischen
prodesse, d.h. dem docere als moralisch oder religi÷s eiferndem Lehranspruch, das andere
Prinzip des durch Formkunst evozierten delectare mit gleichem Recht entgegen.
Das Projekt will in Einzelstudien der Frage nachgehen, wie sich das solcherart
literatursoziologisch, geistes- und mediengeschichtlich bedingte SpannungsverhΣltnis von
Pragmatisierung und Entpragmatisierung in frⁿhneuhochdeutscher Dichtung niederschlΣgt. Der
Gattungsbezug ist von besonderer Bedeutung, weil innerhalb verschiedener Textgruppen recht
unterschiedliche Pragmatisierungsgrade herrschen k÷nnen. Die Liedtypen des Meistersangs
etwa schwanken zwischen klarer religi÷ser Moraldidaxe auf der einen und Liedern reiner
Formspielerei auf der anderen Seite. Preislieder und Kirchenlieder sind eindeutig pragmatisiert,
dennoch oft von hohem Σsthetischen ▄berformungsgrad. Bei den Texten der SchΣferdichtung
wiederum ist die Frage ihrer FunktionalitΣt unklar.
Methodisch stehen textanalytische Untersuchungen im Mittelpunkt, die erheben sollen,
wie der Widerstreit oder die Interaktion verschiedener Sprachfunktionen (Jakobson) in
bestimmten Texttypen realisiert sind. Man kann das Untersuchungen zur Rhetorik
frⁿhneuhochdeutscher Dichtung nennen. Die Begriffsbestimmungen von RhetorizitΣt und
PoetizitΣt stehen dabei in Frage. Fⁿr die AufklΣrung dieser Frage soll das Instrumentarium der
Textlinguistik, der Narrativik, aber auch das der klassischen Rhetorik und Poetik methodisch
genutzt werden.
Drei sprachanalytische Perspektiven sind dabei zu berⁿcksichtigen:
Sprache als Handlung (Persuasion); interne kommunikative Strukturen; Beziehung
zwischen der Darstellung textinterner Persuasion und eventuellen textexternen
Persuasionsabsichten; sprechaktanalytische Untersuchungen.
Sprache als kognitives Medium (Argumentation, Begriffsbildung und Wertungen);
gedankliche, emotive und evaluative Strategien und semantische Tiefenstruktur von Texten im
Hinblick auf m÷gliche Zwecke.
Sprache als Σsthetische Struktur (Poetik); elokutionΣre, narrative, poetische
Strukturen und Verfahren.
Als komplementΣre Perspektive tritt selbstverstΣndlich die literaturhistorische hinzu. Sie
erlaubt, die literarischen Texte im Kontext zu situieren, um so eine Korrelation von
textexternen Bedingungen und textinternen Strukturen zu erm÷glichen. Dies ist fⁿr die
Beurteilung der Text-PhΣnomene unabdingbar.
Wichtige Forschungsliteratur
Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen.
Tⁿbingen 1970.
Horst Brunner, Die alten Meister. Studien zu ▄berlieferung und Rezeption der
mittelhochdeutschen Sangspruchdichter in SpΣtmittelalter und in der frⁿhen Neuzeit.
Mⁿnchen 1975.
Burkhart Dohm, Emanzipation aus der Didaxe. Studien zur Autonomisierung des ErzΣhlens in
Romanen der frⁿhen Neuzeit. Frankfurt 1989.
Ulrich Gaier, Studien zu Sebastian Brants Narrenschiff. Tⁿbingen 1989.
Gerhard Hahn, Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte
des deutschen kirchlichen Liedes. Mⁿnchen 1981.
Erich Kleinschmidt, Stadt und Literatur in der frⁿhen Neuzeit. Voraussetzungen und
Entfaltung im sⁿdwestdeutschen, elsΣss. u. schweizer. StΣdteraum. K÷ln u.a. 1982.
Wilhelm Kⁿhlmann, Gelehrtenrepublik und Fⁿrstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen
SpΣthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tⁿbingen 1982.
Jan-Dirk Mⁿller, Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung.
In: IASL (1985), 1. Sonderheft: Forschungsreferate.
Andreas Solbach, Aufgaben und Probleme einer ErzΣhlrhetorik der Frⁿhen Neuzeit, in: LiLi 25
(1995), H. 98.
Eigene Vorarbeiten (Joachim Knape, Seminar fⁿr Allgemeine Rhetorik)
'Historie' in Mittelalter und frⁿher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche
Untersuchungen im interdisziplinΣren Kontext. Baden-Baden 1984.
Empfindsamkeit in Mittelalter und frⁿher Neuzeit als Forschungsproblem. Eine
Bestandsaufnahme. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium
1985, hg. von J. Ashcroft, D. Huschenbett, W.H. Jackson. Tⁿbingen 1987.
Georg Messerschmidt: Bissonetus (1559), hg. von J. Knape. Tⁿbingen 1988.
Der Finckenritter. Text und Untersuchung, in: Philobiblon 35 (1991), H. 2.
Weltliche ErzΣhlliteratur des 15. u. 16. Jahrhunderts. Einfⁿhrung. In: Von der Augsburger
Bibelhandschrift zu Bertolt Brecht. Zeugnisse der deutschen Literatur aus der Staats-
und Stadtbibliothek und der UniversitΣtsbibliothek Augsburg, hg. von H. Gier, J. Janota.
Augsburg 1991.
Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants (1457-1521).
Baden-Baden 1992.
Barockrhetorik: Theorie und Praxis der Beredsamkeit. Grundlagen und Entwicklungen in
Deutschland. In: Historisches W÷rterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tⁿbingen 1992.
Elocutio. In: Historisches W÷rterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tⁿbingen 1994.
Boccaccio und das ErzΣhllied bei Hans Sachs, in: Hans Sachs. Hg. von S. Fⁿssel. Nⁿrnberg
Zehn Thesen zu Sebastian Brants dichterischer Arbeitsweise am Beispiel der
Epigrammsammlung, in: Sebastian Brant, son Θpoque et 'La Nef des fous'. Colloque
international α Strasbourg 10.3.94-11.3.94, hg. v. G.L. Fink. Strasbourg 1995.
Sebastian Brant als Lieddichter, in: Das Lied im Mittelalter. Frauenchiemsee-Kolloquium 1991,
hg. v. E. Hellgart, N. Ott. Tⁿningen 1995.
M÷gliche Dissertationsprojekte
Die Projekte beschrΣnken sich auf Lyrik und originale ProsaerzΣhlwerke (keine
▄bersetzungen). Drei Arten von Monographien sind ins Auge gefa▀t: Arbeiten zu
Einzelautoren (Autorrhetorik), zu Einzelwerken (Werkrhetorik) und zu Textsorten wie
Lied, Epigramm, Novelle usw. (Gattungsrhetorik).